Wähler schlimmer als Politiker

Der Philosoph Richard David Precht liest in der „Zeit“ (10.9.2009) dem verdrossenen Wahlvolk die Leviten und macht auf die Zusammenhänge mit der neoliberalen Marktreligion aufmerksam:

Der Souverän, das Volk, sucht … nicht nach Weltanschauungen sondern maximal nach einer verlässlichen Rating-Agentur für die Sicherheit von Lebensperspektiven. Parteien spielen dabei nur eine untergordnete Rolle … Doch wen der Staat dazu ermuntert, im seine Alterssicherung nicht mehr zuzutrauen, wer seine Leiden keiner „gesetzlichen“ Krankenkasse mehr überlässt und wer seine Kinder, wenn er kann, auf Privatschulen … schickt, der traut dem Staat auch sonst nicht mehr über den Weg. Nur die sozial Schwachen vertrauen auf den Staat – weil sie müssen.
Die Privatisierung von Lebenssicherheiten wird noch immer unterschätzt. Ihr Resultat ist der maulende Wähler, politikverdrossen und unzufrieden, angestachelt von der bösen Illusion, den Staat kaum noch zu gebrauchen. Bei Umfragen gibt er zu Protokoll, dass er nicht mehr an die Demokratie glaubt, an den Parteien lässt er kein gutes Haar, und den Politikern wirft er vor, was er sich selbst als Position erarbeitet hat: dass sie nur noch an sich denken…
Die mangelnde Solidarität ist die Folge unseres Wirtschaftens … Wenn jeder anders als die anderen sein will, gibt es kein Wir mehr. „Wir“ – das sind immer die anderen. Markt- und Markenwirtschaft erzeugen kein Zusammengehörigkeitsgefühl, sondern moralische Zeitarbeiter …
Wir sind keine Staatsbürger mehr, sondern Investmentbanker unserer selbst…
Wer bei der Steuererklärung dem Staat jeden Cent abtrotzt, den besten Handytarif abzockt, zum Tanken über die Grenze fährt und überall sonst nach Schnäppchen giert – der spürt (vielleicht) eine Restscham, den Großmeistern der Maßlosigkeit ihre Mentalität vorzuwerfen… Dem kurzen Aufschrei über die Abfindungsmilliarden der Banker wohnt noch die stille Bewunderung inne …
Sind solche amoralisierten Bürger regierbar? Gibt es eine Politik für Menschen, die die Abwrackprämie für volkswirtschaftlich falsch halten, sie aber trotzdem kassieren? Für Wähler, die von Politik eine Ehrlichkeit fordern, die sie im Zweifelsfall selbst nicht haben?…
Wer tagtäglich indoktriniert wird, sich Vorteile gegenüber anderen zu verschaffen, genießt eine staatsbürgerliche Erziehung von zweifelhaftem Zuschnitt…
Das sogenannte Individualprinzip als elementarer Kern der Marktwirtschaft muss mit einem durchdachten Sozial- und Humanitätsprinzip in Balance gehalten werden, predigte einst Ludwig Erhards Lehrmeister Wilhelm Röpke. Der Focus setzte dies schon zur vorletzten Bundestagswahl außer Kraft: Wen würde Ihr Geld wählen?
…unser ganzes Wirtschaftssysem beruht darauf, Dinge zu kaufen, die wir nicht brauchen, von Geld, das wir nicht haben, um Leute zu beeindrucken, die wir nicht mögen.


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